Stadttheater Giessen
    Furioses Finale der TanzArt

    Furioses Finale der TanzArt

    Der dritte TiL-Abend der TanzArt ostwest war etwas ganz Besonderes: Dasselbe Stück wurde zweimal aufgeführt und im Anschluss ein Publikumsgespräch über die intensive und authentische Choreografie »Le Cri Persan« ermöglicht.

    Der Iraner Afshin Ghaffarian (geb. 1986) ist studierter Schauspieler mit einer Passion zum Tanz, der im Iran nicht gewünscht ist. Er lebt seit 2009 in Paris im Exil, weil er sich der grünen Revolution im Iran angeschlossen, dort bei Demonstrationen gefilmt und diese Filme auf Internetforen gepostet hatte, vor allem aber weil er während eines Gastspiels seiner Theatergruppe bei den Festspielen Oberhausen auf der Bühne Freiheit für Iran gefordert hatte. Danach durfte er nicht mehr zurückkehren.

    Die Freiheit des Menschen ist nun das zentrale Thema seiner ersten abendfüllenden Choreografie, die er mit der neu gegründeten Compagnie des Réformances (Reform und Performance) erarbeitet hat. Er steht als einziger auf der Bühne, die anderen Vier sind bei der Entstehung und im Hintergrund zuständig. Ghaffarians Ausgangsidee war, etwas Universelles zu schaffen, das von den vier Elementen Erde, Wasser, Feuer und Luft ausgeht und nichts weniger als die Menschwerdung zeigt.

    Ein Mann betritt mit Mikrofon und Redeskript die Bühne, doch scheitern seine Versuche zu sprechen. Blitzlichter verändern die Szenerie, er entkleidet sich, zündet drei Kerzen an, alles ist Stille und Dämmerlicht. Von dem am Boden liegenden Etwas geht ein intensives Wimmern aus, das sich zum befreienden Schrei steigert. Eine Hand bewegt sich vorsichtig aufwärts, bis ein Wasserschwall von oben das Wesen aus dem Staub aufspringen lässt. Nach und nach entdeckt es seinen Körper mit dem Stilmittel der sich ständig wiederholenden Bewegungen (zur Minimal Music von Steve Reich); auch das unentwegte Kreisen des Sufi-Tanzes ist dabei.

    Dieses ritualisierte Vorgehen scheint den Performer streckenweise in Trance zu versetzen, um im nächsten Moment - auch durch Musik- und Lichtwechsel angezeigt - in kontrollierte Bewegungen überzugehen. Nach vielen Momenten des Fallens und Klagens entdeckt er schließlich die Sprache, hält aufrecht schreitend eine überzeugende Rede, in welcher Sprache auch immer, und lernt «Nein» zu sagen. Das Heimatgefühl wird in einem sehr ästhetischen Volkstanz zu orientalischer Musik zelebriert.

    Die Menschwerdung erfährt ihren Höhepunkt in einer Gedichtrezitation auf Deutsch: Das »Lied der Freiheit« von Paul Éluard, wieder in Hemd und Hose gekleidet, vorgetragen mit brechender Stimme und dem Rücken zum Publikum. Für westliche Verhältnisse ein unglaubliches Pathos, das bei ihm jedoch ganz natürlich wirkt. Ein weiteres Mal getoppt wird das Ganze durch das symbolische Abschlussbild: Er steigt zwischen den Gitterstäben des rückwärtigen Fensters auf den Hof hinaus, in die Freiheit.
    Das vorwiegend junge Publikum im TiL spendete nicht enden wollenden Applaus. Selten war eine Choreografie so unmittelbar. Von diesem jungen Choreografen und Tänzer wird noch einiges zu erwarten sein.

    Zum Finale noch einmal kräftig aufgefahren

    Am letzten Abend der TanzArt wurde noch einmal kräftig aufgefahren. Zunächst mussten sich Interessierte zwischen der Wiederholung der Performance »Chaos Algorhythm« im Mathematikum und der TiL-Darbietung entscheiden. Auf der Studiobühne gab es Experimentelles aus Neapel und Athen zu sehen. Das Colletivo NaDa beschäftigte sich mit der Unfähigkeit der Menschen zu kommunizieren, wobei die Nicht-Kommunikation offenbar das Sprechen meinte, da halfen auch Mikrofone nicht weiter; mit ihren Körpern konnten die drei jungen Männer dann Gemeinsamkeiten entwickeln. La Veritá Dance Company aus Athen zeigte ein streckenweise witziges, aber auch ratlos machendes Zweipersonenstück um einen Möchtegern-Macho in Body Builder-Posen und eine neurotisch-unterwürfige Frau.

    Zur Spätvorstellung war das TiL wieder randvoll. Noch eine italienische Gruppe war gekommen, die Breathing Art Company aus Bari, die sich auf die Suche nach dem kleinen Gott der Liebe machte: »Who killed Cupido?«. Die drei taten dies in ungewöhnlichen Kostümen, die zwischen griechischen Genien und römischen Helmen changierten, mit flattrig-nervösem Duktus, immer in der Hoffnung, ihre Liebe doch noch zu finden. Massimo Gerardi, der mit der Tanzcompagnie Gießen die »Puppentänze« einstudiert hatte, war nun selbst als Tänzer zu erleben, in einem Duett rund ums Bett, bei dem das Lügen und Sich-Verstellen Thema war.

    Eine Altmeisterin ihrer Zunft war wieder dabei: die Compagnie Irene K., das ist Irene Kalbusch aus Eupen/Belgien. Nun sind auch zwei ehemalige Gießener Tänzer bei ihr gelandet: die zartgliedrige Masami Sakurai und der Mann mit dem markanten Gesicht, Hiroshi Wakamatsu. In »Cocon« befasst sie sich mit der Metamorphose, die traditionell an der Wandlung von der Raupe zum Schmetterling gezeigt wird. Zu Glucksen, Klirren und Scheppern erfuhren Folien eine neue Ästhetik. Die Plastikröcke raschelten, während die beiden Tanzenden sich auf anmutige Weise ent- und verpuppten.

    Der Abschluss des Festivals fand in »Yesterday's Bird« ein echtes Therapeutikum. Die beiden US-Amerikaner aus der Gruppe von Hofesh Shechter in Brighton hatten sich dem Thema der Selbstfindung verschrieben, taten dies auf erfahrene Art des mittleren Alters. Jason Jacobs hatte mit Andrew Maddick einen einfühlsamen Geiger an seiner Seite, der mit ihm eine ganz eigene Zwiesprache einging: vom Getriebensein durch die Töne, über die verzweifelte Abwehr hin zur Annahme der Notwendigkeit einer inneren Veränderung bis zur friedlichen Koexistenz. Das In-Sich-Ruhen konnte sich nun auch auf das Publikum und die zahlreichen Akteure ausbreiten, was nach diesen intensiven Tagen rund um den Zeitgenössischen Bühnentanz sicher angemessen war. Dagmar Klein, Gießener Allgemeine Zeitung, 15.06.2011